Baltasar Gracian

Handorakel und
Kunst der Weltklugheit

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Sich in die Zeiten schicken

Sogar das Wissen muß nach der Mode seyn, und da, wo es nicht Mode ist, besteht es grade darin, daß man den Unwissenden spielt. Denkungsart und Geschmack ändern sich nach den Zeiten. Man denke nicht altmodisch, und habe einen modernen Geschmack. In jeder Gattung hat der Geschmack der Mehrzahl eine geltende Stimme: man muß ihm also für jetzt folgen und ihn zu höherer Vollkommenheit weiter zu bringen suchen. Der Kluge passe sich, im Schmuck des Geistes wie des Leibes, der Gegenwart an, wenn gleich ihm die Vergangenheit besser schiene. Bloß von der Güte des Herzens gilt diese Lebensregel nicht: denn zu jeder Zeit soll man die Tugend üben: man will heut zu Tage nicht von ihr wissen: die Wahrheit reden, oder sein Wort halten, scheinen Dinge aus einer andern Zeit: so scheinen auch die guten Leute noch aus der guten Zeit zu seyn, sind aber doch noch geliebt: inzwischen, wenn es noch welche giebt; so sind sie nicht in der Mode und werden nicht nachgeahmt. O unglückseliges Jahrhundert, wo die Tugend fremd, die Schlechtigkeit an der Tagesordnung ist! – Der Kluge lebe wie er kann wenn nicht wie er wünschen möchte, und halte, was ihm das Schicksal zugestand, für mehr werth, als was es ihm versagte.

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